Hunger, Ruß und Kälte
Der große Roman der Schornsteinfeger
Jahrhundertelang haben die Männer, um überleben zu können, aus vielen Alpentälern auswandern müssen. Besonders schmerzliche Geschichten haben sich dabei unter den Schornsteinfegern abgespielt, unter den Ärmsten dieser Gegenden. Um wenigstens eine Person weniger ernähren zu müssen, sahen viele Familien sich bis in die frühen Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts gezwungen, ihre Kinder während der Wintermonate, wenn in den Bergdörfern hier oben keinerlei Verdienstmöglichkeiten bestanden, an die Padroni zu "vermieten". Es waren dies ehemalige Schornsteinfeger ohne Skrupel, oft grausam und menschlich und von ähnlichen Erfahrungen verhärtet, die sie zur Arbeit in die nebligen Ebenen des Piemonts und der Lombardei mitnahmen und sie dabei ausbeuteten, wie kaum andere Minderjährige in den Alpen ausgebeutet worden sind. Da nur Kinder in die engen Kaminschlünde einsteigen konnten, stellten sie das "Rohmaterial" zur Ausübung des Kaminkehrerhandwerks dar, das "sine qua non" dieses Berufs. Wie viele dieser armen Jungen haben ihr sechstes, ihr siebtes Lebensjahr in dieser Hölle aus Ruß vollendet, wo es nichts anderes gab als Quälerei, Not, Hunger, Rauch und Kälte! Wie viele von ihnen sind nicht mehr in die heimatlichen Berge zurückgekehrt! Diese Kinder mit dem rußgeschwärztem Gesicht ziehen, zerfetzt, verhungert und mit dem Arbeitsgerät beladen, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, rufen ihre Dienste als Schornsteinfeger aus, betteln um einen Teller Suppe und ein Stück Brot: Sie sind in die volkstümliche Vorstellungswelt eingegangen, in eine oft zu kitschige oder zu oberflächige Literatur, vor allem aber sind sie ein fester Bestandteil der Geschichte der norditalienischen Täler Valle d’Aosta, Val Cannobina, Val Vigezzo, Valle dell’Orco, Val di Non, Val Verzasca und des Tessiner Centovalli - dieser einst bitterarmen Täler, wo die Auswanderung der Schornsteinfeger geradezu zu einem Massenphänomen wurde. In diesem Heft für alpine Kultur geht der Autor auf den unglaublichen Roman der Schornsteinfeger der Westalpen ein, von den ersten Auswanderungen, die sie schon im 16. Jahrhundert ins Ausland geführt haben, bis zur Massenabwanderung von Minderjährigen, die vom späten 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in die oberitalienische Ebene zogen: dies alles anhand von Dokumenten, Interviews und Berichten, die der Verfasser zur Grundlage seiner jahrelangen, eifrigen Recherchen gemacht hat.